In Weiterführung des ekklesiologischen Ansatzes ist nun auszuführen, wie in der Konsequenz der bisherigen altkatholischen ekklesiologischen Besinnung die Koinonia der Kirche im überlokalen Bereich sich darstellt[1].
Sie ist allgemein als Gemeinschaft von Ortskirchen zu denken, und zwar in graduell zunehmender geographischer Ausdehnung bis hin zur universalen Gemeinschaft. Die erste Stufe kann man in Anlehnung an altkirchliche oder anglikanische Modelle als Kirchenprovinz oder Metropolitanverband bezeichnen. Sie kann die Kirche innerhalb der Grenzen eines Staates oder eines Teiles davon sein. Gemeinschaften von Ortskirchen können ihrerseits wieder eine Gemeinschaft bilden (vergleichbar etwa mit einem Patriarchat). Die Ausdehnung bzw. Abgrenzung wird jeweils von geschichtlichen, kulturellen geographischen Faktoren abhängig, sie ist jedenfalls kontingent. Schliesslich gibt es die universale Gemeinschaft von Ortskirchen, die ihrerseits schon überortskirchliche Gemeinschaften bilden. Jede dieser Gemeinschaften ist eine Verwirklichung der Einen Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche als einer Grösse des Glaubens, eben auf Grund ihrer theologisch beschreibbaren Identität, in der sie in unterschiedlicher Weise die Einheit der Kirche bezeugen und ihre Aufgaben der Verkündigung wahrnehmen.
Zur Aufrechterhaltung der überlokalen Gemeinschaft der Ortskirchen muss es verschiedene Formen von gemeinsamer Beratung und gemeinsamer Entscheidung und Glaubenszeugnis geben. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Bischöfe: Sie stehen an der Schnittstelle von Ortskirche und überortskirchlicher Gemeinschaft. Sie sind als Einzelne, die ortskirchlich-synodal eingebunden sind, der personale Fokus der Einheit der Ortskirche und als Viele, ebenfalls synodal eingebunden, der kollegiale Fokus der Gemeinschaft der Ortskirchen. In der Synode von Bischöfen, in der die Einheit und Gemeinschaft der Ortskirchen zur Geltung kommt, muss einer von ihnen eine besondere oder erste Verantwortung haben, dass diese Gemeinschaft der Ortskirchen im Glaubenszeugnis sich manifestieren kann und tatsächlich manifestiert. Dieser Erstverantwortliche ist ein primus inter pares, der nicht allein entscheidet und dem die pares ihre Verantwortung auch nicht abtreten können. Es liegt also hinsichtlich der Verantwortung und des Glaubenszeugnisses der Bischöfe ein Miteinander von Primat und Synode vor[2] .
Das wesentliche Anliegen dieser Konzeption ist einerseits, dass es zwischen der lokalen und der universalen Einheit und Gemeinschaft der Kirche vermittelnde Grössen gibt, die alle als Verwirklichung der Una Sancta an ihren “Örtern” gelten. Andererseits soll der Begriff des Primats sowohl von der ausschliesslichen Fixierung auf einen Universalprimat (der dann erst noch als Jurisdiktionsprimat konzipiert ist) gelöst als auch in seiner synodalen Einbindung betrachtet werden. Beide Anliegen sind eine Folge des ekklesiologischen Ansatzes, der die Ortskirche als primärer Ort von Martyria, Doxologia und Diakonia und darin als (ambivalente) Verwirklichung der Einen Kirche bekennt, von der das Glaubensbekenntnis spricht. Von daher ist es auch konsequent, die Bischofssynoden als Äusserungen der Gemeinschaft der von ihnen repräsentierten Ortskirchen zu sehen und nicht als ein Kollegium der Universalkirche oder eines Teils von ihr. Entsprechend sind auch hier nicht näher zu erläuternde Vorkehrungen zu treffen, dass die Bischöfe auch wirklich für ihre Ortskirchen sprechen, denn sie tragen ja eine (primäre) Verantwortung für die überortskirchliche Gemeinschaft und können und dürfen diese nicht an angeblich übergeordnete Instanzen delegieren. Ob solche Synoden – bis hin zu einer Synode der universalen Gemeinschaft von Ortskirchen (also einem ökumenischen Konzil) – auf Bischöfe beschränkt bleiben, wäre zu diskutieren, wie auch die Fragen, wie Beratung und Entscheidung konkret erfolgen, ob bei Konflikt und Dissens Vertagung einer Entscheidung (Diktatur einer Sperrminorität?), Unterwerfung unter eine Mehrheit (Wahrheitsfindung durch Mehrheitsbeschluss?) oder aber Bruch der Gemeinschaft die Folge wäre.
Schliesslich ist der Prozess der Rezeption ein unentbehrliches Element der hier vorgetragenen Ekklesiologie. Damit ist gemeint, dass die Entscheidung einer Synode – mit welcher geographischen Repräsentativität auch immer – als wahres Glaubenszeugnis von der ganzen Kirche, d.h. den Gläubigen, irgendwie erkennbar in ihrer Lebens- und Bekenntnispraxis aufgenommen wird[3]. Das ist dann sozusagen der Ort der “Unfehlbarkeit” – wenn dieser Ausdruck beibehalten werden soll -, die der Kirche als Ganze gegeben ist.
Ich wiederhole: Diese Konzeption der Einheit der Kirche geht von der Grundeinheit der Ortskirche aus, die eine Verwirklichung der Einen Kirche ist und daher notwendigerweise in Gemeinschaft mit anderen Ortskirchen steht, die das auch sind – mit den räumlich benachbarten bis hin zu universaler Ausweitung. Die Katholizität der Ortskirche und aller Gemeinschaften von Ortskirchen gründet in der Teilhabe an der Einen Kirche in ihrer soteriologisch-trinitarischen Realität, sie ist nicht eine Funktion ihrer Universalität.
Mit dieser Einheitsvision ist schliesslich auch die altkatholische Sicht des Primates des Bischofs von Rom zu verbinden. Es gibt eine ganze Reihe von offiziellen Äusserungen dazu, in denen der historische Primat anerkannt wird, “wie denselben mehrere ökumenische Konzilien und die Väter der alten Kirche dem Bischof von Rom als dem Primus inter pares (dem Ersten unter Gleichen) zugesprochen haben mit Zustimmung der ganzen Kirche des 1. Jahrtausends” (1889). Abgewehrt wird ein Jurisdiktionsprimat, wie er den Papst in singulärer Weise mit der Universalkirche verbindet und damit einen singulären Begriff von Primat impliziert, so dass neben ihm keine “pares” sind und er ein “unicus” statt ein “primus” ist (nämlich – historisch gesehen – in seiner Eigenschaft als Patriarch des Westens); abgelehnt wird ein souveräner universaler Bischof, der neben dem Bischof einer jeden Ortskirche auch noch Bischof ist und dem als “dem” Oberhaupt (Singular!) der Kirche alle Gehorsam schulden.
In Konsequenz des Ansatzes müsste man also von den beiden in der Vergangenheit oft vertretenen Positionen, das ökumenische Konzil stehe über dem Papst (so öfters eine altkatholische Option) oder der Papst stehe über dem ökumenischen Konzil, wegkommen.
Wie aber steht mit der Utrechter Union als einer überlokalen Gemeinschaft von Ortskirchen? Sie war ja für die Altkatholiken der primäre Ort, Formen einer überlokalen Gemeinschaft und Einheit einzuüben. Erst nach einer gewissen Zeit ist sie auf ihre ekklesiologischen Implikationen, aber auch auf ihre faktischen Defizite hin befragt worden[4]. Sie müsste sich grundsätzlich als eine Verwirklichung der Einen Kirche verstehen und nicht etwa als einen Verband von Kirchen, dem kein ekklesialer Status eignet. Freilich ist das nicht unbestritten. Das hängt damit zusammen, dass es schwerfällt, in ihr eine genaue Analogie zu einer Kirchenprovinz oder einem Patriarchat zu sehen. Es hängt auch mit der altkatholischen Versuchung zusammen, die Eigenständigkeit einer nationalen Kirche im Sinn der Unabhängigkeit eines souveränen Staates zu verstehen und die IBK als das erstverantwortliche Organ der Gemeinschaft als etwas die Freiheit der Ortskirche Bedrohendes zu sehen.
[1] Vgl. U. von Arx, 2000; ders., 2008.
[2] Vgl. auch u.a. John D. Zizioulas, Being as Communion, Crestwood NY 1933, bes. 143-169. 247-260; Jean-Marie Tillard, Église d’Églises, Paris 1987.
[3] W. Küppers, 1968; vgl. auch Hermann Josef Sieben, Die Konzilsidee der Alten Kirche, 1979, 515f.
[4] U. Küry, C. van Riel, K. Stalder, U. von Arx.