Einheit in Vielfalt

Der durch die Teilhabe an Gottes Heilswerk in Christus gegebenen Identität der Ortskirchen untereinander steht ihre Pluralität unter soziokulturellen Aspekten im weitesten Sinn gegenüber. So stellt sich die Frage nach einer hinreichenden Manifestation dieser Gemeinschaft und Einheit begründenden Identität in aller Pluralität ihrer Erscheinungsformen. Sie kann nicht von einem neutralen Standpunkt aus erkannt werden, sondern nur im Modus einer gemeinsamen Wahrnehmung, die an eine Glaubensentscheidung grenzt.

Als grundlegende Kriterien der Identitätserkennung können jene Elemente gelten, die auch in der ökumenischen Arbeit der Vergangenheit immer wieder als Voraussetzungen für die Wiedervereinigung der Kirche genannt wurden (und zwar einer Wiedervereinigung, die darauf beruht, dass die Kirchen einander als theologisch identisch, als katholische oder als wahre Kirche – oder wie immer das formuliert wird – erkennen und anerkennen):

  • Der Glaube der Kirche, wie er in der Liturgie, in Bekenntnistexten oder sonstigen verbindlichen Erklärungen formuliert werden kann und seinerseits mit einer bestimmten Praxis kirchlicher Lebensgestaltung verbunden ist;
  • die Liturgie der Kirche, zumal die eucharistische Feier mit ihren Polen Wortverkündigung und Vollzug des Herrenmahls;
  • das Amt der Kirche, besonders betrachtet in seiner strukturellen Ausdifferenzierung und Einbindung in die die örtliche und überörtliche Kirche.

Bei diesen Elementen muss es Aspekte der Gemeinsamkeit geben, die ein Hinweis auf die vorausgesetzte, geglaubte oder zu glaubende Identität sind, ungeachtet aller Verschiedenheiten, die durch eine unterschiedliche Geschichte und Inkulturation bedingt sind [1]. Diese Gemeinsamkeiten zu erkennen und zu bewahren ist eine stete Aufgabe der kirchlichen Gemeinschaft einer Ortskirche und der Ortskirchen untereinander. Dabei werden diese Elemente innerhalb einer Ortskirche oder einer nationalen Kirche (mit einer Vielzahl von Ortskirchen) in der Regel einen grösseren Grad der Uniformität aufweisen als in einer räumlich umfassenderen Gemeinschaft von Orts- und Nationalkirchen (also von Kirchenprovinzen usw.).

Für die altkatholischen Kirchen der Utrechter Union ist der gemeinsame Glaube als solcher nicht in einem besonderen Glaubensbekenntnis formuliert; die “Utrechter Erklärung” enthält vielmehr den allgemeinen Hinweis auf den Glauben der alten noch ungeteilten Kirche und ihre Formulierungen in den Glaubenssymbolen und Entscheidungen der ökumenischen Synoden. Diese bilden so etwas wie – gemeinsame! – Referenzgrössen. Sie weisen einerseits auf die Heilige Schrift zurück, erfordern. andererseits selber immer wieder Verdeutlichungen, Kontextualisierungen. Man kann in der Utrechter Union zwei Arten von solchen Kontextualisierungen unterscheiden: Solche, die von den einzelnen Kirchen verantwortet werden und dann auch mehr oder weniger unterschiedliche Akzente tragen, und solche, die in einem panaltkatholischen Rahmen entstehen und für alle gleich sind. Die ersten dürften viel häufiger sein. Man wird in erster Linie an die liturgischen Bücher und Gebetbücher oder an Katechismen und anderes denken. Zur zweiten Kategorie gehören etwa Erklärungen der Bischofskonferenz, die durch konkrete Herausforderungen oder Anfragen veranlasst sind. Eine gewisse Rolle können auch Erklärungen der Internationalen Altkatholikenkongresse (IAKK, seit 1890) oder der Internationalen Altkatholischen Theologenkonferenzen (IAThK, seit 1950) spielen, denen als solchen keinen rechtlich verbindlichen Charakter zukommt.

Die Liturgie ist also – mit Ausnahme der Weiheriten (1897/99, 1985) – weitgehend einzelkirchlich geordnet, aber die Eingebundenheit in die westliche (vor allem römische) Tradition und der liturgiewissenschaftliche Austausch sorgt für eine fundamentale Übereinstimmung [2].

Das Amt, das in der ortskirchlichen Gemeinschaft der Gläubigen ein strukturierendes Element bildet, wird als überall identisch wahrgenommen, obwohl eine eingehende Analyse wohl kulturspezifische Unterschiede im Selbstverständnis und Auftreten der Geistlichen und in ihrem gesellschaftlichen Status an den Tag bringen würde [3].

Was in den Kirchen der Utrechter Union ebenfalls recht unterschiedlich ausgeprägt ist, ist das kirchliche Recht; es gibt hier noch weniger als in der Liturgie eine konkrete gemeinsame Ordnung; als solche kann nur das “Statut” für die Bischöfe gelten. Innerhalb der einzelnen Kirchen gibt es unterschiedlich dichtes “Kirchenrecht”, aber im Allgemeinen ist es schwach ausgebildet. Das hängt z.T. auch mit einem ererbten antiklerikalen Liberalismus zusammen, der bisweilen seltsam mit autoritärem Verhalten einzelner Geistlicher kontrastieren mag.

So lässt sich verallgemeinernd sagen, dass in und unter den einzelnen Kirchen ein relativ grosser Spielraum für Unterschiede gegeben ist.

Es wird nicht überraschen, dass auch im Hinblick auf die anglikanisch-altkatholische Kirchengemeinschaft diese Vielfalt explizit geschützt wird [4] und irgendwie der inneraltkatholischen vergleichbar ist. Im abschliessenden Text des orthodox-altkatholischen Dialogs heisst es: “Folge und Ausdruck der gemeinsamen erkannten Glaubensgemeinschaft ist die volle, liturgisch-kanonische Gemeinschaft der Kirchen, die Verwirklichung der organischen Einheit in dem einen Leib Christi. Die liturgischen und kanonischen Folgen, die sich aus der kirchlichen Gemeinschaft ergeben, werden von der Kirche auf Grund der Überlieferung der ungeteilten Kirche geklärt und geregelt. Diese Gemeinschaft bedeutet keine Uniformität in der liturgischen Ordnung und in den kirchlichen Gebräuchen, sondern kommt darin zum Ausdruck, dass die beteiligten Kirchen die je geschichtlich gewordene legitime Entfaltung des einen Glaubens der alten und ungeteilten Kirche bewahren. Diese Gemeinschaft bedingt auch nicht die Unterwerfung der einen Kirche mit ihrer Tradition unter die andere, denn dies würde der Wirklichkeit der Gemeinschaft gerade widersprechen”.[5] Die Konkretisierung dieser höchst interessanten Aufgabe würde Neuland eröffnen, aber sie bleibt aus Gründen, die auf beiden Seiten zu suchen sind, liegen.

(Autor: Prof. Dr. Urs von Arx, Bern)


[1] Vgl. U. von Arx 2000
[2] Vgl. den “Konsens der Internationalen Altkatholischen Theologenkonferenz” von 1979 über das Eucharistiegebet, IKZ 70 (1980) 226-229.
[3] Diese Feststellung ist aber dahingehend einzuschränken, dass die von den vier westeuropäischen Kirchen eingeführte Ordination von Frauen zum Priesteramt für die nordamerikanische Polish National Catholic Church kirchentrennend war und zu ihrem Ausscheiden aus der Utrechter Union führte, während für die europäischen Kirchen die Ordination (Niederlande, Deutschland, Schweiz, Österreich) bzw. Nichtordination (Tschechien, Kroatien, Polen) kein Grund für den Abbruch der kirchlichen Gemeinschaft in der Utrechter Union ist.
[4] Vgl. den Punkt 3 der “Bonner Vereinbarung” von 1931: “Interkommunion verlangt von keiner Kirchengemeinschaft die Annahme aller Lehrmeinungen, sakramentalen Frömmigkeit oder liturgischen Praxis, die der ändern eigentümlich ist, sondern schliesst in sich, dass jede glaubt, die andere halte alles Wesentliche des christlichen Glaubens fest.”
[5] Vgl. U. von Arx (Hg.), Koinonia, 194f.